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Tell Me Why

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Diese authentische und schmerzhafte Geschichte bestätigt Dontnods Talent beim Schreiben episodischer Grafik-Adventures.

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Das Schreiben wichtiger Geschichten und deren Transformation in das Medium Videospiel wird heutzutage immer komplexer. Das liegt nicht unbedingt daran, dass es an talentierten Entwicklungsstudios mangelt, eher im Gegenteil. Die Handlungen zeitgenössischer Videospiele berühren oft Themen, die zuvor entweder nicht so weit verbreitet oder schlicht und ergreifend undenkbar waren. Diese Produkte tun das oft nicht nur auf oberflächlicher Ebene, sondern mit der gleichen Sorgfalt und einer vergleichbaren konzeptionellen Tiefe, die wir auch in anderen Medien erwarten. In The Last of Us: Part II konnte man diese Herangehensweise kürzlich bemerken und auch in Dontnods neuem Episodenspiel Tell Me Why ist das der Fall.

Die neueste Arbeit des französischen Studios, die exklusiv für Xbox One und Windows PC erscheint, entfaltet auf geschickte und natürliche Art und Weise eine narrative Verflechtung von Aspekten und Themen der heutigen Gesellschaft, die immer noch Schwierigkeiten damit haben, eine angemessene Repräsentation zu finden. Der Titel greift grundlegende Themen, wie Geschlechteridentitäten, psychische Erkrankungen oder die Angst vor dem Alleinsein auf - Dinge, die viele von uns (viel zu viele) zu Ausgeschlossenen in der eigenen Gesellschaft werden lassen - und nutzt zur Veranschaulichung ausnahmsweise kaum Stereotypen. Das neue Projekt der Entwickler behandelt diese komplexen Sachverhalte mit der nötigen Tiefe und mit einem sensiblen Bewusstsein, sodass daraus ein wertvolles Unterhaltungsszenario wird.

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Tell Me Why zeigt sehr deutlich auf die Schuldigen, schwächt die dunkleren Töne allerdings durch die starke Bindung der beiden Ronan-Geschwister ab.

Dem zunehmenden Bedürfnis an Geschichten mit alternativen Themen, die von traditionellen Medien häufig überschattet werden, kommt Tell Me Why nach. Ich werde nicht auf die spezifischen Details der Handlung eingehen, da ich dieses überwältigende Spielerlebnis wirklich nicht durch unsinnige Spoiler gefährden möchte. Doch was Dontnod in diesem dreiteiligen Spieldrama realisiert, ist ein erschreckender Einblick in das Leben einer Provinz. Diesem flüchtigen Szenario gelingt es auf äußerst effektive und authentische Weise, den Spieler zu verärgern, indem wir die Besessenheit religiöser Gemeinden und die schmutzigen kleinen Geheimnisse einer verschlafenen Gemeinde am eigenen Leib erfahren. Wie wenig solche Gesellschaften mit Andersdenkenden anfangen können, die sich von ihnen in irgendeinem beliebigen Merkmal unterscheiden, das wird mit diesem Projekt auf unangenehme Art und Weise aus der Sicht eines Opfers geschildert. Tell Me Why zeigt sehr deutlich auf die Schuldigen, schwächt die dunkleren Töne allerdings durch die starke Bindung der beiden Ronan-Geschwister ab.

Die einzige Erleichterung, die wir in Tell Me Why finden werden, ist genau diese Beziehung der beiden Zwillinge, die lange Zeit getrennt gelebt haben und nun wieder zusammenzufinden, um sich gegenseitig (wieder) zu entdecken. Da jeder aus dem Leid der Vergangenheit andere Erfahrungen gezogen hat, steht ihnen jedoch ein steiniger Weg bevor. Ein Schlüsselereignis der Ronans ist die unvergessliche Nacht, in der die gemeinsame Mutter Mary-Ann verstorben ist. Seitdem ist viel Zeit vergangen und die Beiden haben in einer entscheidenden Phase ihres Lebens - in ihrer Jugend, in der der Charakter und die Persönlichkeit eines Menschen geformt werden - unterschiedliche Wege eingeschlagen.

Um diese Beziehung (wieder) aufbauen zu können (oder es zumindest zu versuchen), verlässt sich Dontnod auf die bekannten Mechanismen der Entscheidungen, die wir bereits in früheren Spielen des Entwicklers gesehen haben. Die Qual der Wahl wird in Tell Me Why einen noch stärkeren Stellenwert einnehmen, weil sich das Game nicht nur darauf beschränkt, die Geschichte voranzutreiben. Diese Entscheidungen lassen uns gleichzeitig mehr über die Persönlichkeiten der beiden Ronan-Zwillinge herausfinden.

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Das neue Projekt der Entwickler behandelt diese komplexen Sachverhalte mit der nötigen Tiefe und mit einem sensiblen Bewusstsein, sodass daraus ein wertvolles Unterhaltungsszenario wird.

Dontnod hat schon häufig glaubwürdige Hauptfiguren verfasst, bei denen sie nicht auf stereotype oder vorgefasste Darstellungen zurückgreifen mussten und auch in Tell Me Why entschied sich das Team gegen Pathetik oder einen angeblichen Konsens. Das Studio versucht vielmehr, tief in die Persönlichkeiten ihrer Figuren einzudringen und deshalb sind die beiden Geschwister - gerade weil sie normal sind - nichts Außergewöhnliches. Sie sind Menschen und haben aus diesem Grund auch das Recht dazu, zerbrechlich, ein Charakterschwein und manchmal auch nur verdammt langweilig zu sein. Trotz der außergewöhnlichen Handlung, die als Hintergrund für die Geschichte dient, ist es genau diese beinahe schon schmerzhafte Vertrautheit, die in den Figuren, der Handlung und den alltäglichen Situationen von Tell Me Why so überzeugend rübergebracht wird. Es ist schwer, sich nicht auf die verschiedenen Akteure der Geschichte einzulassen, besonders wenn einige dunkle Geheimnisse zum Vorschein kommen.

Ein weiterer Aspekt, der Tell Me Why positiv hervorstechen lässt, ist das sorgfältige Environmental Storytelling: Angesichts der geringen Gesamtdauer (jede Episode dauert nur zwischen drei bis maximal vier Stunden) ist es ratsam, einige Zeit damit zu verbringen, sich die verschiedenen Räume des Ronan-Hauses genauestens anzuschauen. Die kleinen Details dieses Szenarios bilden den Hintergrund für die unterschiedlichen Abschnitte des Spiels. Neben einigen köstlichen Easter-Eggs, die an frühere Dontnod-Spiele erinnern, wird die Erkundung dafür genutzt, um den Spielern mehr Details über die Vergangenheit der beiden Geschwister mitzuteilen. Außerdem erfahren wir durch das Beobachten mehr über die Mutter Mary-Ann und andere Freunde oder Familienmitglieder.

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Aus rein narrativer Sicht funktioniert Dontnods neues Werk beinahe perfekt und meiner Meinung nach auch deutlich besser, als beispielsweise Life is Strange 2, das vielleicht eines der schwächsten Werke des Studios ist. Mir gefällt zudem sehr die gekürzte Episodenformel, da die drei Kapitel den Inhalt der Erfahrung auf die richtige Weise konzentrieren, ohne einige Situationen zu stark zu verdünnen. Das Tempo, obwohl es an manchen Stellen sehr langsam ist, wird immer richtig gehandhabt und ihr werdet nie auf langweilige Momente stoßen, da die Entwickler größtenteils auf Filler verzichten.

Aus rein technischer Sicht ist Tell Me Why ebenfalls ein anständiger Fortschritt im Vergleich zu Dontnods früheren Produktionen. Fehler oder Einbrüche in der Framerate habe ich nicht festgestellt, denn das Spiel läuft allgemein ziemlich flüssig. Aus künstlerischer Sicht fällt auf, dass Tell Me Why den von Life in Strange, aber vor allem den in Vampyr, eingeschlagenen Weg fortsetzt und einen in mancherlei Hinsicht realistischeren Stil bevorzugt. Der raue Aquarellstil, den wir aus dem ersten Life is Strange kennen, haben sie mittlerweile aufgegeben und ich verstehe diese Entscheidung. Das Studio wählte einen visuellen Ansatz, der der Realität näher kommt, um sich gleichzeitig auch den erwachsenen Themen zu nähern, die das Spiel erzählen möchte.

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Es ist schwer, sich nicht auf die verschiedenen Akteure der Geschichte einzulassen, besonders wenn einige dunkle Geheimnisse zum Vorschein kommen.

Das gleiche zeigt sich auch in der übernatürlichen Komponente, die in den meisten Spielen des Entwicklers zum Tragen kommen. Diese Komponente ist zwar noch immer wieder vorhanden, spielt aber deutlich weniger Einfluss innerhalb der Geschichte. Die "Kraft", die die Ronan-Geschwister besitzen und die es ihnen ermöglicht, bestimmte Erinnerungen und entscheidende Phasen vor dem Tod ihrer Mutter noch einmal zu erleben, ist eigentlich nur die Gabe, sich an die Vergangenheit zu erinnern. Die beiden Zwillinge rufen sich in Erinnerung, was sie jeweils erlebt haben und dabei fällt ihnen auf, dass es nennenswerte Unterschiede in der Wahrnehmung der beiden Figuren gibt. Die Wahrheit aus diesen subjektiven Interpretationen herauszufinden, das ist der grundlegende Dreh- und Angelpunkt des gesamten Spiels. Aus diesem Grund ist es, wie gesagt, wichtig, jede Spielumgebung ganz genau zu erkunden, da jeder kleinste Hinweis wichtige Hintergründe enthüllt, die zum Abschluss im letzten Akt führen.

Tell Me Why ist zweifellos eines der ausgereiftesten Produkte, die wir von Dontnod bisher gesehen haben. Das französische Studio liefert eine Arbeit ab, die mit Blick auf die Vergangenheit wichtige Fortschritte erzielt. Einige Eckpfeiler bleiben jedoch unverändert, wahrscheinlich auch weil sie die Entwickler im Genre der episodischen, narrativen Abenteuerspiele überhaupt erst so beliebt gemacht haben. Die einzige wirkliche Kritik, die ich an das Spiel richten möchte, betrifft die musikalische Seite, die nicht auf dem Niveau vergangener Produktionen liegt. Früher war der Soundtrack fast ein ebenso wichtiger Aspekt, wie die Protagonisten innerhalb der Spiele, doch in diesem Kapitel kommt uns nur ein sehr unterschwelliger Ton zu Ohren. Ich habe diese präzisere Formel mit drei Folgen jedenfalls sehr geschätzt, da sie es dem Spieler ermöglicht, sich ohne unnötigen Füllstoff besser auf die Geschichte und ihre Protagonisten zu konzentrieren. Und am Ende ist doch genau das das Wesentliche, was bei diesen Produktionen zählt.

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08 Gamereactor Deutschland
8 / 10
+
eine sehr solide und gut geschriebene Erzählstruktur, authentische Charaktere, die Formel mit drei Folgen funktioniert, guter künstlerischer Stil.
-
der Soundtrack bleibt nicht so sehr in Erinnerung.
overall score
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