Schon bald stößt er auf ein magisches Buch namens Grimoire Weiss. Mal abgesehen davon, dass dieses Buch der Schlüssel zum Sieg über alles Böse ist, fungiert es fortan als sarkastischer, etwas größenwahnsinniger Sidekick mit hochnäsigem Akzent. Unterstützt von Weiss ("Grimoire Weiss, wenn ich bitten dürfte...") wird der Schwertkampf von Nier durch riesige Fäuste und magische Attacken verstärkt. Mit der Zeit treten einige Nebencharaktere auf, aber das große Abenteuer konzentriert sich ganz auf den Protagonisten.
Das Spiel ist eine interessanter Hybrid aus der intensiven Action von Spielen wie Devil May Cry oder Bayonetta und typischen, modernen Japan-RPGs wie Monster Hunter oder The Last Remnant. Das Action-Gameplay, besonders während der famosen Bosskämpfe, riecht schwer nach Dante's Inferno: die Attacken passend zum Angriffsmuster des Bossgegners timen und dann die Schwachpunkte angreifen. Aber es gibt auch reichlich Gelegenheit, die großzügigen Areale frei zu erkunden, nebenbei Monster zu jagen und Zeug zu sammeln, das diverse Dorfbewohner benötigen.
Eine andere Sichtweise auf das Spiel ist es sich vorzustellen, wie ein eher konventionelles und kommerzielleres Shadow of the Colossus ausgesehen hätte. Was wäre gewesen, wenn Team Ico ihr Spiel mit Städten gefüllt hätte, mit Missionen, zusätzlichen Gegnern und Nebencharakteren, anstatt es zu etwas komplett Einzigartigem zu machen? Nier ist genau dieses Spiel. Insbesondere die visuelle Gestaltung ähnelt Uedas Meisterwerk enorm, mit schroffen Felsen, Ruinen und bizarren Monster - aber alles nicht ganz so gestochen scharf, wie wir es heute gewohnt sind. Wer mit einer Grafik beeindrucken will, wie sie im Jahr 2006 auf der Playstation 2 beeindruckend war, der kollidiert eben schnell mit den heutigen Standards. Das Spiel hat zudem übermäßig lange Ladezeiten, wo nur die optionale Festplatteninstallation (auf beide Formate) etwas Linderung verspricht.
Selbst wenn das Grundkonzept konventionell ist, strotzt das Spiel nur so vor kleinen und cleveren Ideen. Während wir die meiste Zeit in 3D-Welten wandeln, ändert das Spiel in engen Passagen die Perspektive und wird zum Plattformer mit Seitenansicht. In anderen Passagen wechselt Nier in die Top-Down-Ansicht und erinnert an alte Legend of Zelda-Titel. Und sowohl Bosse als auch die Standardgegner haben eine Tendenz, ihre Schüsse in Mustern abzugeben, die an Shooter wie Ikaruga erinnern.
Eine große Mischung aus Ideen und Inspiration, aber mit einer eigenen Identität. Verantwortlich dafür ist zu großen Teilen die herausragende Musik. Praktisch jedes Musikstück, von den ruhigen Balladen in den Städten bis zu den Up-Tempo-Popsongs in der Wildnis, versetzen einen in die richtige Stimmung für den jeweiligen Zeitpunkt. Ein bisschen überraschend, dass die Musik von der gleichen Person selektiert wurde, die den Soundtrack zu Tekken 6 verantwortet hat. Offenkundig ein Mann mit vielen musikalischen Vorlieben und Talenten.
Leider ist der Rest der Soundkulisse nicht so brillant. Einige der englischen Synchronstimmen sind erstklassig, gerade Grimoire Weiss ist akustisch wunderbar inszeniert. Die zornige Halb-Dämonin Kainé zeigt das andere Ende des Spektrums, und ihr ständiges Fluchen passt einfach nicht zu einem Spiel wie diesem.
Auch die Optik ist streckenweise ein bisschen übertrieben, Kainé etwa sieht aus, als ob sie gerade direkt vom Laufsteg einer Fashionshow kommt. Verlieben sollte man sich allerdings nicht ehe man die Dame besser kennt und ihre dunklen Geheimnisse entarnt. Die Welt von Nier ist ohnehin eine eher dunkle, wo die Menschheit fast ausgestorben ist und zurück in eine mittelalterliche Gesellschaftsform gedrängt wurde. Aber es gibt noch Technologien, antike Ruinen bewacht von mechanischen Monstern und die allgegenwärtigen Schatten - düstere, leuchtende Formen, die gerne im Rudel jagen.
Trotz einer guten Prise Humor und des intensiven Tempos hat Nier seine Schattenseiten, auch wenn die nicht ganz pechschwarz sind. Die Dinge gehen selten aus wie beabsichtigt und die Anstrengungen von Nier, etwas zu Essen auf den Tisch zu bringen und das Heilmittel zu finden, indem er kleine Besorgungen macht und in vergessenen Katakomben sucht, packen mich auf eine komische Art und Weise.
Es gibt immer noch eine Missionen zu vervollständigen und mehr Monster zu jagen, so dass es schwierig ist mit dem Spielen aufzuhören. Entlang des Abenteuers wird Nier immer stärker durch neue Magie, seine Waffe verbessert sich und er wird reicher. Wer sich gerne absichtlich zu Tode langweilt, kann mit Nier auch versuchen, Fische zu fangen oder Gemüse anzubauen - zwei Mini-Spiele, die in vielen japanischen Rollenspielen ohne Einladung auftauchen.
In der Summe genieße ich die Freiheit, in Nier die Dinge in meinem eigenen Tempo zu machen, und dass mir die Hauptgeschichte dabei nicht aufgezwungen wird. Es macht Spaß, eine Mission, die eigentlich viel zu hart ist, mit einer gut gewählten und vorsichtigen Strategie (zum Bespiel wild im Kreis laufen um einen Felsen, um dem wütenden Eber auszuweichen) doch zu schaffen. Es geht nicht nur sklavisch um die Stats des Spielers, sondern auch um seine Fähigkeiten. Der Humor, der fetten Bosskämpfe, das Suchtpotential des "Nur-noch-schnell-eine Mission" und vor allem die Musik sind der Grund, warum man Nier seine Chance geben sollte. Es gibt zwar Fehler wie die sich penetrant wiederholenden Gegner, aber die Stärken des Spiels überwiegen diese Schwächen bei weitem. Nier, eine sehr angenehme Überraschung.