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Heavy Rain

Heavy Rain

Ethan Mars. Ironischerweise fast der Prototyp eines PS3-Besitzers. Etwas über 30. Erfolgreich im Job. Glücklich verheiratet, zwei Kinder. Alles ist gut, aber dann verändern Sekunden das Leben komplett. Sein älterer Sohn läuft vor ein Auto und stirbt. Ethan wollte ihn retten, kommt aber Sekunden zu spät. Vor seinen Augen und denen seiner Frau und des zweiten Sohnes Shaun kollabiert eine glückliche Realität.

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In der folgenden Zeit bricht dann alles zusammen. Frau weg, Job futsch, Haus weg. Allein gelassen mit seinem jüngeren Kind ist Ethan gezwungen, in ein tristes Vorstadthaus zu ziehen. Der direkte Transfer aus einer heilen, glänzenden, amerikanischen Bonbonwelt in eine bestenfalls sepiafarbene Fallout-Ödnis. Bonjour tristesse.

David Cage, Produzent von Heavy Rain und der wichtigste Mann beim Entwickler Quantic Dreams, will solche Gefühlswelten erlebbar machen. Er will, dass jeder der Heavy Rain spielt, drin ist im Kopf der Hauptperson. Komplett mit ihr verschmilzt und ihr Leiden erlebt - möglichst nah, möglichst real. Dafür hat er einen guten Teil seiner eigenen, bitteren Erfahrungen eingebracht.

Die gesamte Figur Ethan Mars geht auf ein Erlebnis zurück, das Cage mit seiner Frau in einem Supermarkt hatte. Sein eigener Sohn war plötzlich weg. Cage dachte, der Kleine sei bei seiner Frau. Seine Frau dachte, er sei bei ihm. Als das beide realisierten, „folgten die schlimmsten zehn Minuten meines Lebens." Der Sohn tauchte zum Glück schnell wieder auf. „Aber die Essenz dieses grausamen Ereignisses musste ich verarbeiten."

Auf der Gamescom hat er nun zum wiederholten Male Spielszenen aus Heavy Rain gezeigt. Wenn man David Cage beim Spielen mit Ethan Mars zuschaut, merkt man ihm an, dass er eine tiefe Beziehung zu den Charakteren im Spiel aufgebaut hat. Immer wieder scheint es so, als fühle er mit, während sich Ethan Mars im Dialog mit seinem Sohn befindet. Vielleicht spielt hier der Entwickler, der nah an seinem bisher größten Projekt lebt. Vielleicht aber auch ein Vater, der gerade live von seinen Emotionen berührt wird. Ich jedenfalls denke in diesem Moment intensiv darüber nach, was es für mich bedeuten würde, an Ethan Mars' Stelle zu leben. Mir läuft, ungelogen, ein kalter Schauer den Rücken runter. Will man als Spieler so ein Spiel überhaupt spielen?

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Das besondere an Heavy Rain ist, sagt Cage, dass es tatsächlich eigentlich kein Videospiel ist. „Heavy Rain ist mehr als ein Videospiel. Es gibt keine Regeln. Man muss nichts machen, man kann etwas machen". Heavy Rain ist also mehr eine Geschichte zum Mitmachen als ein Videospiel, vielleicht auch eine visuell unglaublich gut aussehende Aneinanderreihung von Möglichkeiten. Es gebe zwar verschiedene Schwierigkeitsgrade und immer wieder Challenges in Heavy Rain, erklärt Cage, aber es gehe doch im Kern eher um Entscheidungen. Der Spieler solle „sich entscheiden, welche Art von Vater er sein möchte". Fragen wie diese ziehen sich durch das gesamte Spiel und haben immer wieder Auswirkungen auf die Entwicklung der Geschichte.

Wir befinden uns momentan gemeinsam mit David Cage in einer Episode mit Ethan Mars und seinem Sohn Shaun, daheim in ihrem tristem, neuen Zuhause. Quasi also in einem Level, ohne das es wirklich einer wäre. Denn es gibt Cage zufolge kein erklärtes Ziel, außer permanent die verworrene Geschichte um den Origami-Mörder vorwärts zu treiben. Shaun haben wir grad von der Schule abgeholt. Kaum zuhause, springt er sofort in Richtung Fernseher und schaltet ihn an.

„Shaun hat wie alle wesentlichen Charaktere im Spiel eine vollständig eigene Agenda. Er handelt autonom", erläutert Cage. Schalten wir nun den TV ab, fängt Shaun sofort an zu meckern - oder schaltet die Kiste umgehend selbst wieder ein. Nun sehen wir uns als Vater mit der Entscheidung konfrontiert: Gucken lassen oder endgültig abschalten. Guter Vater oder schlechter Vater. Und wann sind wir was? So arbeitet Heavy Rain mit Gefühlen, bei großen und kleinen Events im Spiel.

Kommen wir in Shauns Nähe, poppt ein dezentes Kreiselmenü über unserem Kopf auf, dass Kommunikationsmöglichkeiten offeriert: Wie war's in der Schule? Willst Du was essen? Was geht so ab in deinem Leben? Typische Startpunkte für Gespräche zwischen Vater und Sohn, die Shaun häufig genug mit klassischen Antworten quittiert: „Lass' mich doch einfach Fernsehschauen." Während der Gespräche folgt das Menü auf magische Weise einer Art inneren Logik, so dass es immer am rechten Platz zu sein scheint. Schwer zu erklären, aber sehr beeindruckend.

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Durch jedes Gespräch wird immer deutlicher, dass Ethan und Shaun kein ausgesprochen gutes Verhältnis haben. Der Vater frustriert vom Leben, der Sohn frustriert vom Leben und vom Vater. Auch hier wieder sehr reale, beklemmende Gefühle bei mir. Solch' eine Beziehung will niemand haben. Und wieder diese Frage: Wer will das spielen? Content für 35-Jährige fiel während der langen Diskussion mit Cage einmal. Sicher, genau die haben Kinder und vielleicht Angst, sie zu verlieren und im Leben zu versagen. Ein 18-Jähriger indes wird das vermutlich nicht so erleben - und die ganze emotionale Ebene desinteressiert zum Teufel wünschen.

Trennen sich die Wege von Ethan und Shaun im Haus, teilt sich der Bildschirm in bisweilen mehrere Fenster auf, etwa wenn ein Charakter seiner eigenen Agenda folgt. Während wir im Wohnzimmer gelangweilt auf die Wanduhr schauen, kapituliert Shaun vor seinem Hungergefühl und holt sich Chips aus dem Küchenschrank. Wir hätten ihm wohl besser etwas zu Essen gemacht. Einmal bringen wir Shaun ins Bett und er weint bitterlich. Der Teddybär ist weg. Wir können ihn nun weinen lassen oder das Kuscheltier suchen.

„Beziehungen aufbauen" nennt David Cage das. Schlafanzug anziehen oder in Klamotten pennen lassen. Oder Shaun einfach gar nicht ins Bett bringen. Dann schläft er auf der Couch vor der Glotze ein. Entscheidungen, immer wieder Entscheidungen. Und bisher kein einziger Schuss, keine einzige Schlägerei. Das ist nicht im gesamten Game so, aber in dieser Episode bleibt es so. Auch Quick-Time-Events fehlen, was aber ebenso an der Episode liegt und nicht daran, dass diese plötzlich aus Heavy Rain verschwunden wären. Sie spielen immer noch eine wichtige Rolle.

Während David Cage das Leben von Ethan und Shaun im Detail erläutert, stellt sich mir immer mehr eine Frage: Will ich mir als Spieler das Leben unnötig so schwer machen? Will ich mir selbst eine derart böse Geschichte erzählen? Will ich schlecht und gemein zu meinem eigenen Sohn sein? Allein dass ich denke, der digitale Shaun könnte mein Sohn sein, ist sicherlich ein Erfolg für David Cage. Ebendas gilt auch für die anderen Fragen. Aber trotzdem: Wer will so etwas am Ende wirklich so spielen? Ist die gesamte, negative Storyline nicht ein Musterbeispiel für verschwendete Ressourcen?

Folgen wir David Cage, dann natürlich nicht. Denn er will ein komplexes Universum kreieren, dass alle Möglichkeiten offenbart. Und immer wieder auf Entscheidungen hinarbeitet. Beziehungswiese ganz präzise ausgedrückt, auf den Moment genau vor der Entscheidung. Denn dann werden die heftigsten Emotionen ausgelöst. Dann wird jene Zerrissenheit in uns aktiviert, die spürbar ist, wenn wir entscheiden müssen, den kleinen Shaun weinen zu lassen bis er einschläft oder vorher seinen Teddybären im Haus zu suchen.

Heavy Rain ist jedoch nicht nur bei der Erzählstruktur stark, sondern auch beim Darstellen. Insbesondere die Nahaufnahmen sind unglaublich stark. Eindrücklich werden die Gesichter gezeigt, mit fetischistischer Präzision ist alles animiert. Einmal nimmt Ethan eine heiße Pizza aus der Mikrowelle. Wie die dampft, das ist einfach unglaublich. Isoliert betrachtet ist das Kleinkram, in der Summe aber wird so das konsistente Erlebnis definiert.

Schade dagegen, dass es manchmal außerhalb der Details noch sehr deutlich sichtbar Probleme gibt. Steigen wir mit Ethan etwa die Treppen im Haus hoch, wirkt das sehr, sehr hölzern und gleichförmig. Das hat bei Shenmue nicht wirklich schlechter ausgesehen. Die Treppen hinunter hingegen geht es wesentlich lebendiger und authentischer. Die Steuerung des Charakters ist ein wenig gewöhnungsbedürftig, als Mischung aus Intuition und „im Weg". Was bedeutet, dass vieles tatsächlich sehr natürlich funktioniert, während andere Handlungen sich deplatziert und komisch anfühlen. Etwa, wenn wir Schranktüren öffnen und danach eine Chipstüte greifen. Oder wir mit dem Six-Axis-Controller einen Tetrapak Orangensaft aus dem Kühschrank nehmen, ihn durchschütteln und dann daraus trinken.

Über 200 Leute arbeiteten im Laufe der Jahre an Heavy Rain, ein insgesamt riesiges Investment für Sony. Und doch will Cage, ganz der Künstler, nicht an den potenziellen Markt für einen Titel wie Heavy Rain denken, sondern lieber darüber was ihn bewegt. Ein Jahr lang habe er allein an der Geschichte geschrieben, „harte Arbeit, diesen Weg konsistent und kreativ zu beschreiten." Besonders dann, wenn jeder der 200 Menschen emotional etwas beitragen möchte. Viele gute Ideen hätten außen vorbleiben müssen, denn es zähle am Ende doch am meisten, „dass ich meine Vision verfolgen muss, meine eigenen Ideen schützen muss. Im Zweifel gegen jedes Feedback, so interessant und gut es auch sein mag." Heavy Rain, wie es momentan dastehe, sei zum Glück immer noch sehr nah an dem dran, was er sich ganz am Anfang ausgemalt hat. Es bleibt ihm zu wünschen, dass die zahlende Kundschaft am Ende zu würdigen weiß, was alles in Heavy Rain drinsteckt.

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