Baldur's Gate und seine Nachfolger gelten als die Inbegriffe der PC-Rollenspiele, als Genre-Meilensteine, die bis heute aufgrund ihrer epischen Erzählqualität und famosen Spielbarkeit immer noch unerreicht sind. Immer wieder haben aufwendig produzierte Titel wie The Elder Scrolls IV: Oblivion oder Risen am Thron gerüttelt. Doch bis heute gelang es keinem RPG, die Saga in spielerischer Hinsicht zu überflügeln. Für viele Fans und Beobachter lag das auch oft an dem stets fehlenden Gruppen-Gefühl. Ohne Begleiter fehlte vielen Spielen der letzten Jahre - abgesehen von Neverwinter Nights 2 - die nötige Substanz. Ausgerechnet mit dem geistigen Nachfolger von Baldur's Gate startet Entwickler Bioware nun selbst den Versuch, sein eigenes Werk zu übertrumpfen und erschuf dafür Dragon Age: Origins.
Dragon Age: Origins ist nicht nur deshalb ein besonderes Spiel, weil es von einem Entwicklerteam mit enorm hohem Ansehen stammt und endlich wieder ein Party-System bietet. Oder unterschiedliche Enden. Gerade letzteres findet sich immer häufiger bei anspruchsvollen Games mit durchdachter Erzählstruktur. Origins steht vielmehr für sechs völlig unterschiedliche, mehrstündige Prologe, die ganz auf die jeweiligen Charakter-Herkünfte zugeschnitten sind.
Ob wir uns am Beginn des virtuellen Abenteuers in der Fantasywelt Ferelden für eine Karriere als menschlicher Adeliger, Magier oder bürgerlicher Zwerg entscheiden, hat gravierende Auswirkungen auf die ersten Stunden des Games. In der Rolle als adeliger Abkömmling wartet eine höfische Gesellschaft mitsamt versnobter Riten, der Start als Zwerg auf der untersten sozialen Stufe könnte indes kaum gegensätzlicher sein. Noch krasser wird die Figur des Magiers initiiert. Die Wahl der Herkunftsgeschichte entscheidet darüber, wie die Welt auf die Figuren reagiert. Sie beeinflusst, wie sich das Spiel entwickelt, sodass sich unterschiedliche Storyelemente, Dialogoptionen und sogar Erzählstränge eröffnen, die dem Spiel einen hohen Wiederspielwert verleihen.
Die Auswahl der Herkunft und die Entscheidung für eine der drei Basisklassen (Schurke, Krieger, Magier, inklusive mehrerer Spezialisierungen, Skilltrees und Talentgruppen) ist zwar typisch für das Genre, ihre weitreichenden Auswirkungen hingegen nicht. Selbst nach Ende der etwa dreistündigen Einführung beeinflusst das Wesen und das Verhalten der Spielfigur alle wichtigen Dialoge sowie Reaktionen der NPCs, gruppendynamische Prozesse und damit oft auch das Voranschreiten der Hauptgeschichte. Selbst ein Baldur's Gate bot kein so detailliert ausgearbeitetes Gesellschaftsmodell, keine vergleichbare Sozialstruktur. Eine der großen Stärken von Dragon Age: Origins ist tatsächlich die kommunikative Seite. Immer wieder werden Dialoge geführt, die uns mit wichtigen Entscheidungen konfrontieren.
Das Resultat sind denkwürdige, emotionale Momente. Wir werden zum Herrn über Leben und Tod, sind mit massiven, teilweise verstörenden Gewissenskonflikten konfrontiert. Brutale Urteile in einer höchst erwachsenen Welt voller Blut, Gewalt und Sex. Wir erleben Intrigen und Schicksale, decken schreckliche Geheimnisse auf, durchleben Verrat und Mord, schmieden Allianzen und erleben sogar Rassenverfolgung am eigenen Leib. Der Verzicht auf bevormundende Political Correctness hilft der spannenden, vielschichtigen Story - ein heller Lichtschein im sonst drögen Rollenspiel-Einerlei. Bioware hat zwar ein Fantasy-Spiel geschaffen, doch mit der "Wir haben uns alle Lieb"-Mentalität vieler anderer Rollenspiele, in denen sich immer irgendwie alles zum Guten wendet, hat das hier nichts zu tun. Entscheidungen haben teilweise so bittere Konsequenzen, dass sogar die fragile Stabilität der eigenen Gruppe davon erschüttert wird.
Doch es gibt nicht nur die dunkel-heroische Seite von Dragon Age: Origins. Ergriffen lauschen wir einem traurig vorgetragenen Lied am Lagerfeuer oder schauen verdutzt, als ein Annäherungsversuch von einer eifersüchtigen Begleiterin vereitelt wird: "Was, du willst dich mit dieser Trulla abgeben? Was wird denn aus uns?", ertönt es plötzlich und die Romanze mit der Karten spielenden Söldnerin ist passé: "Entschuldigt, ich wusste nicht, dass euer Herz jemand anderem gehört."
Die Mitstreiter verfügen ohnehin über eigene Ansichten der Welt und tun dies immer wieder kund, ohne dass sie dazu ermuntert werden. Während der kaltherzig erscheinende (angebliche) Massenmörder Sten die meisten unbarmherzigen Entscheidungen schulterzuckend mitträgt, ereifert sich etwa die gutherzige Priesterin Leliana bei jeder Missetat. Templer Alistair steht Magiern wie der mysteriösen Morregan kritisch gegenüber, während Elfen ein Problem mit Werwölfen haben.
Unsere Taten und Worte beeinflussen direkt die Sympathiewertung jedes einzelnen der verfügbaren Kameraden. Während eine bedingungslose Gefolgschaft sogar in Sex (auch gleichgeschlechtlichem) münden kann, führt das Gegenteil zum Verlassen der Gruppe oder sogar zur offenen Auflehnung und Kampf. Einige Figuren begegnen sich sogar mit zutiefst empfundener Abneigung und beharken sich ständig in fiesen oder zickig anmutenden Rededuellen, die mitunter in Gefechten gipfeln. Mit Fingerspitzengefühl und Geschenken lassen sich die Kumpanen jedoch meist rechtzeitig ins Boot zurückholen und so zudem spezielle Charakterquests und Bonusfertigkeiten freischalten.
Bioware hat die Anzahl der gleichzeitig zur Verfügung stehenden Party-Mitglieder auf vier begrenzt. Im Vergleich zu den bis zu sechs Helden in Baldur's Gate ist das eine deutliche Einschränkung und erlegt euch die Qual der Wahl auf: Welche drei Klassen sollen neben der eigenen Spielfigur agieren? Ein Schurke ist aufgrund der Möglichkeit verschlossene Kisten zu öffnen, Schlösser zu knacken und Fallen zu entschärfen fast schon Pflicht. Heilzauber können nur von Magiern ausgesprochen werden und schlagkräftige Unterstützung an der Front ist auch nicht zu verachten. Glücklicherweise muss sich niemand endgültig festlegen, immer wieder kann die Truppe neu zusammengewürfelt werden. Charaktere, die sich in Wartestellung befinden, leveln übrigens mit, obwohl sie nicht aktiv an den Abenteuern mitwirken.
Im Mittelpunkt von Dragon Age: Origins stehen selbstverständlich die Abenteuer. Eine Hauptquest, in der eine Allianz gegen das Böse geschmiedet wird, enthält massenweise Tolkien-Anleihen. Doch die vielen Intrigen, Wendungen oder krassen Todesfälle wecken Erinnerungen an R.R. Martins "Song of Fire and Ice". Teilweise verharrt man minutenlang tatenlos vor dem Bildschirm, drückt die Pausentaste und überlegt, welche Konsequenzen eine Antwort haben könnte. Mitunter beschäftigen diese Dinge uns weit über das Spiel hinaus, binden unsere Gedanken an ein Rollenspiel, dessen Komplexität sich erst nach einem Dutzend Stunden Spielzeit so richtig zu entfalten beginnt. Wer sich mit allen Nebenquests beschäftigt, verbringt allein mit einer Herkunftsgeschichte locker 80 Stunden in Ferelden und versucht als Grauer Wächter den Sieg der Dunklen Brut zu verhindern.
Wie es sich für ein ordentliches Rollenspiel gehört, werden Konflikte nicht allein durch Redegewalt gelöst. Äußerst blutige Schwert- und Axthiebe gehören daher genauso zur Tagesordnung wie mächtige Magieattacken, hinterhältige Meuchelangriffe, kritische Bogenschüsse oder tödliche Fallen. Doch egal, mit welchen Recken es in die Schlacht geht, wir uns durch Dungeons metzeln und uns Genlocks und Hurlocks, Werwölfen, Dämonen, Wiedergängern, Drachen oder menschlichen Kontrahenten stellen - kopfloses Vorpreschen führt fast immer zum Game Over. Dragon Age bietet von Haus aus ein herausforderndes Spielerlebnis, selbst auf dem Schwierigkeitsgrad Normal stehen hohe Hürden im Weg. Die Gefechte, in denen der Heldengruppe meist viele Gegner gegenüberstehen, sind von taktischen Elementen geprägt.
Wie schon bei Baldur's Gate legt das Geschehen mit einem Antippen der Leertaste eine Pause ein, alles verharrt in Stillstand. In aller Ruhe gibt's so eine Übersicht des Schlachtfelds, Spielfiguren werden Positionen zugewiesen, die Verwendung von Heiltränken, Angriffszaubern oder Nahkampftechniken geordnet. Ohne diese nützliche Funktion ließe sich bereits das Ende des Prologs kaum siegreich überstehen, geschweige denn die viel größeren Gefahren im weiteren Spielverlauf meistern. Oft ist es nützlich, Schwächen der Spielmechanik auszunutzen, indem beispielsweise einzelne Feinde aus Gruppenverbänden herausgelotst und in einen Hinterhalt gelockt werden. Bisweilen ist es sogar von Vorteil, den Rückzug anzutreten und seine Heroen in einem anderen Raum neu zu positionieren, anstatt sich der Übermacht feindlicher Fernkämpfer auszusetzen und gnadenlos zusammengeschossen zu werden.
Glücklicherweise haben die Mitstreiter auch ohne eigenes Zutun eine gute Kampfmoral. Wer nicht jedes Fitzelchen persönlich regeln will, kann die Party auch komplett autark kämpfen lassen, mit guten Ergebnissen. Ob manuell oder automatisch - in beiden Fällen unterstützt auf Wunsch ein fein justierbares Taktikmenü die Kampfführung. Nach dem Prinzip Aktion/Reaktion werden Verhaltensvorgaben für jedes einzelne Gruppenmitglied festgelegt: "Heile dich selbst, wenn deine Lebensenergie unter 50 Prozent fällt", "Greife zuerst Magiewirker an" oder "Reagiere mit Aktion X, wenn der Gegner Y benutzt". All diese strategischen Möglichkeiten verhindern jedoch nicht, dass ab und zu ein Held in die Knie geht.
Vor allem bei "Überfällen" entlang der Reiseroute kommt es immer wieder zu unfair erscheinenden Attacken auf das Team. Nur sorgfältige Kampfführung unter Einsatz aller Möglichkeiten macht es möglich, solche Situationen zu überstehen. Solange zumindest einer der Kämpfer überlebt, erstehen alle anderen nach dem Sieg wieder auf und tragen lediglich Verletzungen davon, die sich jedoch mit einem entsprechenden Heiltrank beseitigen lassen. Rumstehen und warten, um Lebenskraft und Mana zu regenerieren oder Zaubersprüche zu lernen, gehört zum Glück der Vergangenheit an und wurde von Bioware mitsamt dem Dungeons & Dragons-Regelwerk über Bord geworfen. Zahlen und Daten der Charaktere spielen zwar auch nach wie vor eine wichtige Rolle, viel wichtiger sind bei diesem modernen Rollenspiel jedoch die Charaktere hinter den Statistiken.
Drama, Epos, Pathos - das sind die dominierenden Schlagworte und nicht Konstitution, Resistenz oder gar Itemsammelwut. Viele Gegner lassen zwar nach ihrem Ableben Gegenstände zurück und auch in Truhen findet sich manche Kostbarkeit. Richtig tolle Artefakte haben jedoch eher Seltenheitswert und stehen daher auch nicht im Mittelpunkt der Spielmechanik. Wer sich dennoch für die vielen Hintergrunddetails, kleinen und großen Geschichten, Monster oder spezielle Waffen interessiert, wirft einfach einen Blick in den Kodex. Die mächtige Enzyklopädie erfasst wichtige Spielinhalte und vertieft das Wissen rund um die Fantasywelt.
Doch auch in einem über weite Strecken brillanten Rollenspiel ist nicht alles super. Besonders negativ fallen die nicht vorhandenen Reaktionen der computergesteuerten Charaktere auf Geschehnisse um sie herum auf. Diebstähle nehmen sie grundsätzlich nicht wahr, selbst wenn die Aktionen scheitern. Auch die sonst immer aufmerksamen Gruppenmitglieder übersehen das. In einem komplexen Spiel, in dem soziale Handlungen eine derart immense Bedeutung haben, darf Diebstahl einfach nicht ungestraft hingenommen werden. Immer wieder kämpft die Gruppe zudem in unmittelbarer Nähe von Wachen oder Zivilisten, ohne dass diese Notiz davon nähmen oder gar darauf reagierten. Das fehlende Feedback fühlt sich doch sehr komisch an.
Ein wenig enttäuschend ist auch die Optik. Während die Kampfeffekte und butterweichen Animationen klasse sind, wirken viele Texturen selbst bei höchsten Grafikeinstellungen verwaschen. Die Landschaft bietet wenig Blickfänge und hinterlässt einen sehr kargen Eindruck mit stark eingeschränkter Weitsicht. Oft wirken Städte und die modulartig aufgebaute Welt leblos und steril. Wer, wie in Oblivion, gerne durch eine riesige, zusammenhängende Welt wandert, um nach Abenteuern zu suchen, wird ernüchtert die Beschränktheit von Ferelden akzeptieren müssen.
Deutlich detailverliebter ist dagegen die Ausstattung der Innenräume und vor allem der Dungeons. Hier zeigen die Designer vor allem im späteren Spielverlauf, dass sie atmosphärisch überzeugende Areale fabrizieren können. Als Beispiel für kreative Sahnebonbons dient das Nichts. Eine Traumwelt, in der plötzlich viele frische Elemente den Spielablauf auflockern und bereichern.
Durchweg gelungen sind hingegen die Zwischensequenzen, vor allem hinsichtlich der Mimik und Aussagekraft der Figuren. Ohne auch nur den Text zu lesen oder die hervorragend synchronisierten Sprecher zu hören, wird aus der Gestik und der Physiognomie deutlich, in welcher Stimmung sich Charaktere befinden. Dass viele Mienen ein wenig hölzern wirken, lässt sich angesichts der ausdrucksstarken Darstellung verschmerzen. Ein wenig blass bleibt in diesem Zusammenhang der eigene Hauptcharakter, dessen Dialogzeilen leider nicht vertont wurden. Absolut überzeugend sind hingegen der hochemotionale Soundtrack sowie die tollen Soundeffekte. Ob es sich um metallisch knirschende Bewegungen der Plattenrüstungen handelt, das Röhren der Werwölfe, knisternde Lagerfeuer oder das wilde Gebrüll eines Ogers - hier wird eine herausragende Hintergrundbeschallung geliefert.
Wer Dragon Age: Origins auf dem PC spielt, hat einen großen Vorteil und kann fließend von der isometrischen Ansicht in die Third-Person-Perspektive wechseln. Immer wieder ertappt man sich dabei, die butterweich animierten Figuren aus der Action-Perspektive zu betrachten, anstatt in distanzierter Objektivität zum Kampfgeschehen zu bleiben.
Was wirklich ärgerlich ist, das man bereits bei Erscheinen des Spiels für ein vermeintliches Extra wie eine eigene Schatztruhe, in der Besitztümer gehortet werden können, zusätzlich bezahlen muss. Nur wer 560 Microsoft Points (bzw. 6,99 Euro) für den Zusatzinhalt Warden's Keep hinblättert, darf auf das bequeme Feature zurückgreifen. Eigene Behausungen zu kaufen ist darüber hinaus genauso wenig möglich wie das Spielen mit Freunden. Auf Mehrspielermodi hat Bioware leider verzichtet.
Dragon Age: Origins, daran gibt es keinen Zweifel, ist das herausragende Rollenspiel dieser Generation. Es tritt in die enorm großen Fußstapfen von Baldur's Gate und füllt diese auch aus. In einigen Punkten steht es durch den Verzichts auf das D&D-Regelwerk möglicherweise zurück, dafür überzeugt es in puncto fein austariertem Gesellschaftsmodell und grandioser erzählerischer Sozialstruktur umso mehr. Die ständigen Interaktionen der einzelnen Charaktere untereinander ist faszinierend, ihre facettenreichen Aktionen und Meinungen begeistern, die wendungsreiche Geschichte ist voller emotionaler Momente: Mal witzig, mal traurig, aber immer mitreißend und packend.
Wer den etwas zähen Beginn hinter sich lässt, erlebt ein erwachsenes Epos voller Gewalt, Blut und Sex, mit hinterlistigen Intrigen, unerwarteten Konflikten, brutalen Gewissenskonflikten. Immer wenn man glaubt "krasser geht's nicht mehr", setzt Bioware noch einen drauf. Dragon Age überzeugt jedoch nicht in allen Bereichen. Optisch ist es nur gutes bis sehr gutes Mittelmaß, Außenareale hinterlassen oft einen leblosen und kargen Eindruck und die fehlenden Konsequenzen auf Diebstähle stoßen bitter auf. Doch angesichts der unglaublich hohen erzählerischen und dramatischen Rollenspiel-Qualitäten fallen die vorhandenen Negativaspekte nur gering ins Gewicht.