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Amokläufe und die Schuld der Spiele?

Videospiele werden schnell zum Sündenbock gemacht, wenn Amokläufe passieren. Gerne werden dabei andere Faktoren ignoriert. Eine Spurensuche...

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Im Jahr 1951 veröffentlichte der US-Verlag Little Brown & Company ein Buch über einen Einzelgänger, der darum kämpft, seinen Platz in der Welt zu finden. Das Buch wurde Der Fänger im Roggen genannt und bald von mehreren Schulen in den USA verboten. Es hieß, der Inhalt habe einen schlechten Einfluss auf die Kinder. Als das Buch später im Zusammenhang mit der Ermordung von John Lennon und Rebecca Schaeffer genannt wurde, und dem versuchten Mord an Ronald Reagan, war das nur mehr Brennstoff für ein bereits gut geschürtes Feuer der Medien für die breite Öffentlichkeit.

1994 wurden drei Jugendliche aus West-Memphis zu lebenslangen Haftstrafen für den Mord an zwei Teenagern verurteilt. Fänger im Roggen-Exemplare fanden sich nicht in ihrem Besitz. Aber sie waren alle eher Einzelgänger, die Black Metal hörten, schwarze Kleidung trugen und Interesse am Okkultismus hatten. Die Spuren am Tatort waren Hinweise, keine Beweise. Aber die Polizei und die Nachbarn hatten mehr als nur das Gefühl, dass diese grausamen Taten von den drei Jugendlichen verübt wurden. Es war daher logisch anzunehmen, dass sie es auch tatsächlich getan hatten.

Was hat das alles nun mit Videogames zu tun? Nun, dafür muss ein weiterer Zeitsprung her. Weiter ins Jahr 1999, als zwei Jungen eine Tat planten und auch ausführten, die als Columbine High School Massacre bekannt wurde. Die Medien suchten schnell Fragmente und fanden heraus, dass die Jugendlichen Gothic-Anhänger waren, Marilyn Manson hörten und Fans des Films Natural Born Killers waren. Sie spielten auch Games wie Doom und Wolfenstein 3D. Dies entfachte erneut die Debatte über den womöglich schlechten Einfluss von Musik, Filmen und jetzt auch gewalthaltigen Videogames auf Teenager.

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In Deutschland wurden vor allen Dingen zwei Amokläufe mit Videospielen in Verbindung gebracht. In Erfurt erschoss am 26. April 2002 der 19-jährige Robert Steinhäuser an einem Gymnasium in Erfurt zwölf Lehrer, eine Sekretärin, zwei Schüler und einen Polizisten - und am Ende sich selbst. Es war der erste Amoklauf dieser Art an einer deutschen Schule.

Am 11. März 2009 drehte der 17-jährige Tim Kretschmer in Winnenden durch. An der Albertville-Realschule sowie in deren Umgebung starben 15 Menschen, bevor sich der Amokläufer selbst erschoss, nachdem ihn die Polizei nach mehrstündiger Flucht gestellt hatte. Elf weitere Menschen wurden durch Kugeln aus Kretschmers Waffen teils schwer verletzt. Gerade im Zuge dieser Tat wurde in Deutschland von Teilen der Politik und Öffentlichkeit vehement ein Verbot der als Killerspiele gebrandmarkten Games gefordert.

Im Jahr 2012 war die Sandy-Hook-Grundschule in Newton Schauplatz eines Massakers, bei dem 28 Menschen starben, darunter auch der Täter. Der 20-jährige Adam Lanza wurde in den Medien schnell als fanatischer Call of Duty-Spieler dargestellt. Es wird oft darauf hingewiesen, dass die Waffe, die er verwendete, einer der Videospielwaffen ähnelte. Dass Adam Spiele wie Dance Dance Revolution und Super Mario Bros. bevorzugte, wird kaum erwähnt. Die National Rifle Association (NRA) versuchte derweil, die Kritik am freien Zugang zu Waffen in den USA durch einen medialen Frontalangriff gegen die Gaming-Industrie zu relativieren. Schuld am Massaker seien nicht die Waffen, sondern Spiele wie Bulletstorm, Grand Theft Auto und das kaum bekannte Kindergarten Killers. Auch in Deutschland wurden schnell Videospiele als Tatmotivator benannt. Erst später wurden psychosoziale Umstände der Täter und ihr Zugang zu echten Waffen als die wirklichen Gründe der Taten identifiziert. Games sind also "nur" ein Katalysator von vielen gewesen.

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Der letzte Amoklauf, der direkt auch mit Videogames in Verbindung gebracht wurde, ereignete sich am 22. Juli 2011 in Oslo und auf der Insel Utøya. Der 1979 geborene Norweger Anders Behring Breivik tötete 77 Menschen, bevor er gestellt wurde. Norwegische Leitmedien fokussierten sich schnell darauf, dass Breivik bis zu 16 Stunden am Tag World of Warcraft und Call of Duty gespielt haben soll.

Es sind nur einige Beispiele, wie die Massenmedien Videospiele als Nachfolger von Büchern, Filmen und Musik als Auslöser für Gewalttaten brandmarkten. Und das, obwohl bis heute keine gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnisse über eine direkte und feste Verbindung zwischen gewalthaltigen Videospielen und gewalttätigen Menschen vorliegen.

Die Forschungen haben nur gesichert gezeigt, dass Videospielen bei Menschen das Belohnungszentrum im Gehirn stimulieren und die Reaktionsfähigkeit sowie das räumliche und strategische Denken verbessern. Trotzdem pflegen die Massenmedien das Stereotyp des asozialen, videospielenden, männlichen Einzelgängers. Und das, obwohl Gaming heute mehr und mehr in der Mitte der Gesellschaft an-gekommen ist. Obwohl viele Frauen über 40 viel zocken. Obwohl der Anteil von Frauen und Männer nahezu identisch ist.

Es ist nichts Neues, dass für Schuldzuweisungen gerne auf Kleinigkeiten im Leben eines Täters hingewiesen wird. Die ältere Generation war zudem stets skeptisch gegenüber der jüngeren Generation und deren vermeintlich eigenartigen Interessen. Selbst Platon warnte vor tausenden Jahren vor schriftlichen Medien. Er glaubte, dass Niedergeschriebenes die Ideen aus ihrem Kontext reißen und die menschliche Fähigkeit beeinflussen würde, Informationen zu speichern. Und nun sind immer noch Games der große, böse Wolf. Die Frage ist: Warum eigentlich?

Amokläufe und die Schuld der Spiele?
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Experten sind sich einig, dass der Faktor des Unbekannten ins Spiel kommt, wenn Videospiele im Verdacht stehen, für Gewalttaten verantwortlich zu sein. Anders Sundnes Løvlie, Professor am Gjøvik University College, sagt dazu: "Die Menschen erleben oft Neues und Ungewohntes als bedrohlich und gefährlich. Wir sind wahrscheinlich fest verdrahtet, genau so zu empfinden - und ist das so seltsam? In einer gefährlichen Welt ist es oft sinnvoll, die Dinge vorsichtig anzugehen, mit denen man nicht vertraut ist. Nur macht uns das anfälliger, die Gefahren von etwas Neuem maßlos zu übertreiben. Dies kann zu Überreaktionen führen und dazu, die inhärent positiven Möglichkeiten eines neuen Mediums zu ignorieren."

Die meisten der Menschen, die den Einfluss der Videospiele fürchten und sie für Massaker verantwortlich machen, sind selbst keine Spieler. Sie wissen nicht, was Gaming ist und sie realisieren kaum, dass es so viel mehr ist als nur Schießen und Gewalt. Sie haben dafür eine konkrete Vorstellung davon, welche Art von Menschen Videospiele konsumieren und welche Art von Spielen sie spielen. Diese Unwissenheit und Vorverurteilung macht es einfach für sie, gewalthaltige Videospiele und die Menschen, die spielen, zu dämonisieren. Für diese Menschen sind durchschnittliche Gamer und die oben genannten Täter ein und dasselbe. Aber genau das ist natürlich nicht der Fall. Terroristen und gewalttätige Angreifer verbringen ihre Zeit mit einer Menge anderer Dinge als nur Videospielen, aber "normale" Hobbys sind nicht so "gefährlich" wie Videospiele und werden daher gerne ignoriert.

Zusätzlich zu dem Faktor des "Unbekannten" gibt es auch eine mediale und öffentliche Notwendigkeit, einen anklagenden Finger auf jemanden oder etwas zu richten, wenn etwas Schreckliches und Unerklärliches passiert. Es muss einen Grund dafür geben, dass Amokläufer töten. Vorzugsweise lautet der nicht: Weil sie es konnten, wollten oder die Gelegenheit dazu hatten. Es muss eine tiefere Ursache geben, einen externen Motivator. Kim Johansen Østby, Doktorand an der Universität von Oslo, hat klare Hinweise.

Amokläufe und die Schuld der Spiele?
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"Videospiele mussten oft die Hauptlast dieser Bürde tragen. Die Medien haben einen seltsamen Einfluss auf die Art, wie wir denken, wenn etwas Schlimmes passiert, das aber nicht Teil unseres Alltags ist. Der Eindruck, dass Videospiele schlecht sind, wird verstärkt, wenn die Medien in der Lage sind, mehrere Fälle zu verknüpfen, was ein wiederkehrendes Denkmuster kreiert, dass die Videospiel wirklich schuld sind (weil sie der gemeinsame Nenner in allen Fällen sind). Und dann gerät der Schneeball ins Rollen. Das ist natürlich sehr problematisch, weil es den Fokus von Faktoren weglenkt, die wahrscheinlich relevanter sind. Etwa, wie jemand aufgewachsen ist, die Beziehung zu Familie und Freunden oder wie die Situation in der Schule oder auf der Arbeit war. Es ist viel einfacher, einen externen Faktor hervorzuheben, als individuelle, interne Faktoren. Letzteres ist aufwändiger. Es ist einfacher und billiger, ein Produkt zu beschuldigen."

Faltin Karlsen, Professor für Medienwissenschaft an der Norwegian School of Information Technology, hat noch einen anderen Punkt. Er sagt, dass sich die Gewalt in der Gesellschaft nicht verstärkt hat, seit Videospiele immer beliebter werden. Ganz im Gegenteil. "Die Kriminalitätsstatistiken in den meisten westlichen Ländern zeigen, dass Gewaltverbrechen in der Tat rückläufig sind. Analog dazu hat die Zahl der verkauften Videospiele explosionsartig zugenommen. In den USA gab es einen Anstieg der Gewaltverbrechen in den 1960er Jahren, lange bevor Videospiele überhaupt ein möglicher Faktor waren."

Dies bedeutet jedoch nicht, dass alle Kritik an Videospielen auf taube Ohren treffen sollte. Es bedeutet nicht, dass Videospiele nie ein Einflussfaktor sind, obschon eine klare Verbindung nicht hergestellt werden konnte. Es gibt Menschen, die Probleme durch übermäßiges Spielen bekommen, wobei der Durchschnittsspieler sicher kein bewaffneter Irrer ist. Es gibt negative und positive Seiten an allen Dingen im Leben. Gerade wir als Spieler sollten offen sein für eine differenziertere Sicht der Welt. Im Fall von Breivik waren die Experten und Psychologen davon überzeugt, dass er kaum in der Lage sei, für sich selbst zu sorgen und daher sogar ungeeignet für eine Gefängnisstrafe. Doch eine Untersuchung seiner Spieltätigkeit, in deren Rahmen die Mitglieder seiner World of Warcraft-Gilde aussagten und ihn als talentierten, strategischen und intelligenten Spieler beurteilten, half dabei, Breivik als geistig gesund einzustufen. Damit konnte er für seine Taten strafrechtlich verantwortlich gemacht werden.

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Schließlich sollten wir uns vielleicht noch fragen, was die Massenmedien tun, wenn sie keinen Schuldigen finden können. Vielleicht sollten sie den Blick nach innen richten und einen Teil der Verantwortung übernehmen? Mainstream-Medien sind groß darin zu verherrlichen, was ihren eigenen Umsatz erhöht. Wie hat es der Sänger Marilyn Manson in seinem Artikel "Columbine: Wessen Schuld es ist" im Rolling Stone im Jahr 1999 passend geschrieben: "Von Jesse James bis Charles Manson haben die Massenmedien seit ihrer Gründung Kriminelle zu Volkshelden gemacht. Sie haben gerade zwei neue erschaffen, als sie die Bilder dieser Penner Dylan Klebold und Eric Harris auf die Titelseite gedruckt haben. Seid nicht überrascht, wenn jedes Kind, das herumgeschubst wird, nun zwei neue Idole hat."

Die Massenmedien servieren nicht nur instabilen Individuen Helden zum Kopieren, sie servieren auch bequeme Sündenböcke, die die Schuld für ihre Untaten übernehmen. Videospiele, Filme, Bücher und Musik machen normale Menschen nie gewalttätig. Aber sie können bereits gewalttätigen Menschen einen Vorwand liefern, um Gewalt auszuüben. Die Massenmedien und die Öffentlichkeit arbeiten weiter an einer Fokussierung auf Hobbys als mögliche Gründe für Gewaltverbrechen. Aber der Fänger im Roggen war nie das Problem. Marilyn Manson war nie das Problem. Videospiele sind auch nicht das Problem. Die Gesellschaft sollte sich mal anfangen zu fragen: Was genau ist eigentlich das Problem?

Zum Glück für die Videospiele sieht es so aus, als sei ihre Zeit als medialer Sündenbock zu Ende. Immer mehr Menschen spielen Videospiele. Und in Zukunft werden noch mehr mit Videospielen aufwachsen. Große Zeitungen schreiben regelmäßig über Videospiele und mehr ihrer Reporter, die von Tragödien berichten, sind selbst Videospieler oder werden solche sein. Ihre persönlichen Erfahrung mit Videospielen als Medium wird im Regelfall zu einer differenziertere Meinung über ihren Einfluss führen. Darüber hinaus werden Videospiele stärker als Kulturgut akzeptiert. Es gibt Stipendien und öffentliche Gelder, einen staatlich geförderten Computerspielpreis. Und immer mehr Lehrer erkennen den Wert der Videospiele, integrieren sie in den Unterricht. Der durchschnittliche Spieler wird in den Augen der Gesellschaft immer "normaler".



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